Über seine filmische Sozialisation und die Voraussetzungen gut gestalteter Bilder: Wolfgang Thaler, Professor für Bildtechnik und Kamera.
Der Diagonale-Kamerapreis für Workingman’s Death (2006) oder der Preis der deutschen Filmkritik 2016 für Vor der Morgenröte sind nur zwei von mehreren Preisen, die Wolfgang Thaler bereits erhalten hat. Der jordanische Spielfilm Theeb, bei dem Thaler für Kamera verantwortlich zeichnet, war 2016 in der Kategorie Foreign Language Film für den Oscar nominiert. Seine Filmografie umfasst mehr als 50 dokumentarische und fiktionale Titel als Kameramann für Film und Fernsehen. Unter anderem hat Thaler mit dem bei Dreharbeiten in Afrika verstorbenen Michael Glawogger und mit Ulrich Seidl, für dessen neuen Spielfilm Böse Spiele er gerade hinter der Kamera steht, zusammengearbeitet. Thaler, Jahrgang 1958, wuchs in einem Kärntner Dorf auf, war immer schon vielseitig interessiert und kam über das Fotografieren zum Filmemachen. Mittlerweile ist er auch als Regisseur aktiv, seit 2008 gibt er sein erworbenes Wissen und seine Erfahrung als Professor für Bildtechnik und Kamera an die Studierenden der Filmakademie Wien weiter.
Wie sind Sie eigentlich Kameramann geworden?
In unserem Dorf gab es ein Kino. Der erste Film, den ich damals gesehen habe, hieß Drei weiße Birken und hat mich sehr fasziniert. Alle ein bis zwei Monate sind die Volksschulen aus den umliegenden Dörfern im westlichen Kärnten zu einer Schulprojektion gekommen. Ich habe mich immer dazu geschwindelt und illegal Vorführungen besucht. Die Magie des Kinos hat mich schon sehr früh gepackt. Aber das Thema Kamera wurde erst viel später interessant, als ich Anfang 20 war. Ich hatte mir einen Fotoapparat gekauft, und ein Jahr später trat ich zur Aufnahmeprüfung an der Filmakademie an. Der Wunsch, mit der Kamera zu arbeiten, ist auch daraus entstanden, dass ich immer schon gerne Musik gehört habe, die sich in meinem Kopf sofort in Bilder umgesetzt hat. Man kann sagen, die Musik hat mich zum Film und zur Kamera gebracht.
Sie wurden gleich bei der ersten Bewerbung an der Filmakademie angenommen?
Ja, es hat überraschenderweise gleich geklappt. Der Fotoapparat war eigentlich ein Zwischenschritt und nur deshalb notwendig, weil man für die Aufnahmeprüfung Fotos abgeben musste. Ich habe zwar auch einen Videofilm für die Prüfung gedreht und im Vorfeld einem Professor gezeigt, doch der meinte, es wäre besser, den Film nicht einzureichen. Naja, das war ein sehr guter Tipp.
Sie sind nun seit 2008 selbst Professor für Bildtechnik und Kamera an der Filmakademie Wien. Inwiefern hat sich die Ausbildung seit Ihrem Studium verändert?
Eine Ausbildung, wie sie heute stattfindet, hätte damals gar nicht stattfinden können. Nur wenige der Lehrenden waren gleichzeitig in der Filmbranche tätig. Aber was ich sehr genossen habe, war die Freiheit, die wir hatten. Man konnte sich mit einer Filmkamera in der Hand ganz unbekümmert austoben. Das ist heute nicht mehr ganz so der Fall, weil sich der Lehrplan verändert hat und man versucht, den Studierenden möglichst viel beizubringen. Das ist auch meine größte Sorge: den Studierenden die Unbekümmertheit zu bewahren. Denn diese ist ein sehr wichtiges Gut, wenn es um die Weiterentwicklung des Filmemachens geht. Sehr wesentlich an der jetzigen Ausbildung finde ich jedoch, dass alle Lehrenden nach wie vor selbst in der Filmbranche tätig sind und die neuesten Erfahrungen in künstlerischer wie auch in technischer Hinsicht an die Studierenden weiter vermitteln.
Wie hat der Unterricht ab 2008 ausgesehen? Hat man von Analog gleich auf Digital umgestellt oder wurde parallel unterrichtet?
Als wir auf Digital umgestellt haben, wurde die Zeit zu kurz, um Analog und Digital gleichzeitig zu unterrichten. Das bedaure ich, denn man lernt das Schauen besser, wenn man auf Filmmaterial dreht, weil nicht unendlich viel Material zur Verfügung steht. Man muss viel mehr auf das fokussieren, was man erzählen will und vor allem lässt man weg, was man nicht erzählen muss. Das ist ein wesentlicher Punkt, den ich sehr vermisse, aber da lässt sich die Zeit leider nicht zurückdrehen.
Spielen hier auch ästhetische Aspekte eine Rolle, die man den Studierenden gern beibringen würde?
Die Ergebnisse der Kamera-Studierenden nach der Umstellung auf Digital waren gleich viel besser und stärker, weil sie alle bereits eine gewisse Vorbildung mit Fotoapparaten mit Videofunktion hatten. In der analogen Welt hatten sich die Studierenden zwei Jahre lang mit der richtigen Belichtung geplagt und mussten erst die verschiedenen Filmmaterialien kennenlernen. Es ging also sowohl um technische als auch ästhetische Fragen, da der Belichtungsmesser nicht nur für die technisch richtige Belichtung des Films, sondern auch als ein ästhetisches Werkzeug einsetzbar ist. In der digitalen Filmwelt spielt der Belichtungsmesser eine untergeordnete Rolle. Es wird in den höheren Jahrgängen von den Kamera-Spezialisten immer wieder der Wunsch an uns heran getragen, auch den analogen Film lernen zu dürfen, doch leider sind alle Filmlabors in Österreich geschlossen, die Transportkosten ins Ausland und die Entwicklungskosten zu hoch, und es dauert eine Ewigkeit, bis die Studierenden das Ergebnis zu sehen bekommen. Zur Zeit drehe ich mit Ulrich Seidl sein neues Projekt auf 35mm und mache dabei selbst die leidvolle Erfahrung des langen Wartens auf die Muster. Natürlich liebe ich den analogen Film und bevorzuge vom ästhetischen Standpunkt aus betrachtet das Filmkorn gegenüber der glatten Oberfläche einer digitalen Aufnahme. Aber vielleicht ist das nur eine Generationenfrage. Viele Regisseure sagen: „Wir drehen digital, aber bitte lass es so aussehen wie auf Film“. Das ist ein gewisser Widerspruch.
Welche Voraussetzungen sollten Studierende mitbringen, die Bildgestaltung studieren möchten?
Talent, Intuition, Beobachtungsgabe und ein optisches Gefühl. Das sind die Hauptvoraussetzungen, wenn man Kamera studieren möchte. Für mich ist ja die Aufnahmeprüfung der schwierigste Moment des ganzen Jahres. Wehe, ich übersehe ein Talent! Das würde ich mir nicht verzeihen. Oder man lässt sich von Bewerberinnen und Bewerbern täuschen, die schon am Plafond ihrer Möglichkeiten angelangt sind. Zum Glück sind wir in den beiden Kameraklassen vier Lehrende, die alle Aspekte einer Bewerbung abwägen, trotzdem ist eine Fehlentscheidung nie ausgeschlossen. In der digitalen Welt, wo jeder mit seinem Fotoapparat oder seinem Handy filmen kann, glauben viele: „Ich kann das. Ich studiere Kamera.“ Das ist oft ein Irrtum.
Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die man jedenfalls mitbringen sollte?
Teamfähigkeit ist das Wichtigste. Film ist und bleibt Teamarbeit. Man ist einfach aufeinander angewiesen.
Mit welchen anderen Filmbereichen sollten sich Kamera- Studierende gut auskennen?
Es ist wichtig, ein Rhythmusgefühl zu haben und sich mit Schnitt auszukennen. Sie müssen hinter der Kamera oft entscheiden, wann der Schnitt kommt. Auch ein wenig Ahnung von Regie und ein Gespür für die Schauspieler sollten sie mitbringen. Die Leute hinter der Kamera sind ja gewissermaßen das erste Publikum, also sollten sie das Gefühl dafür haben, ob eine Aufnahme gelungen ist oder nicht. Sie müssen ein Drehbuch richtig lesen und interpretieren können und die produktionstechnischen Abläufe beherrschen. An der Filmakademie werden Studierende in den ersten drei Semestern in allen fünf Hauptstudienrichtungen unterrichtet. Ich halte das für sehr sinnvoll. Mir persönlich hat es z.B. sehr viel gebracht, etwas über das Schreiben zu lernen. Obwohl ich selbst nicht schreiben kann, bewerte ich Drehbücher nun ganz anders. Es ist grundsätzlich gut, nicht nur auf das eigene Fach fokussiert zu sein.
Sie selbst haben ja durch Ihre Zusammenarbeit mit Seidl oder Glawogger oft an der Schnittstelle zwischen Fiktionalem und Dokumentarischem gearbeitet. Findet auch Letzteres seinen Platz im Unterricht?
Ich finde, wir müssen noch stärker auf die dokumentarische Arbeit eingehen. Beim Fiktionalen kann man alles herstellen, beim Dokumentarischen muss man an Ort und Stelle seine Bilder finden, die Geschichte erkennen und einschätzen, wann eine zu filmende Situation wichtig ist. Die dokumentarische Erfahrung, die ich in meiner Anfangszeit als Kameramann gesammelt habe, hat mir bei der Arbeit am Spielfilm sehr geholfen, weil mein Auge dadurch sehr gut geschult ist. Häufig beobachte ich beim dokumentarischen Arbeiten der Studierenden, dass die Kamera ständig alles aufnimmt, so unter dem Motto, es könnte ja ein guter Moment dabei sein. Wenn dieser Moment dann aber wirklich eintritt, fehlt es oft an der Konzentration, ein gut gestaltetes Bild einzufangen. Oder richtig gute Momente werden versäumt, weil man durch das ständige Laufen der Kamera blind für die guten Situationen wird. Vielleicht gibt es ja in Zukunft eine Professur für Dokumentarfilm, was wirklich sehr wünschenswert wäre, denn der österreichische Film ist gerade auf diesem Gebiet großartig.
Welche Beispiele von gelungenen Dokumentarfilmen zeigen Sie Ihren Studenten?
Was das Konzeptionelle betrifft, zeige ich natürlich gerne Seidl-Filme, weil die besonders deutlich machen, was ein Dokumentarfilm braucht: ein spannendes Thema und ein starkes visuelles Konzept. Dann zeige ich natürlich auch „normale“ Dokumentationen, die ein starkes Thema haben und sich optisch und erzählerisch von anderen unterscheiden. Es geht auch darum, den Studierenden beizubringen, für einen auf 60 Minuten veranschlagten Dokumentarfilm nicht 70 Stunden Filmmaterial anzuliefern.
Worauf legen Sie noch besonderen Wert?
Auf die Vermittlung von Grundwissen der Bild- und Lichtgestaltung und des filmisches Erzählens. Und dass sich die Studierenden künstlerisch frei entfalten können und sich im „geschützten Raum“ der Filmakademie ausprobieren.
Wie könnte für die Studierenden ein guter Einstieg in die Branche aussehen?
Ich lege sehr großen Wert darauf, die Studierenden im Kamera- und Licht-Department bei meinen Filmen mit ans Set zu nehmen. Bei Hotel Rock’n’Roll haben zehn Studierende mitgearbeitet. Sie bekommen dadurch die Chance, ihr Netzwerk zu knüpfen, lernen das Arbeiten unter professionellen Bedingungen in der Branche kennen, knüpfen Kontakte zu Filmproduktionen und bringen ihre Erfahrungen aus der freien Wirtschaft wieder zurück an die Filmakademie. Bei den eigenen Projekten profitieren wiederum die Mitstudierenden von ihren Erfahrungen. Der Übergang vom Studium zum Beruf ist heute sehr fließend. Viele Studierende drehen bereits Imagefilme oder Musikvideos und können in manchen Fällen sogar einen Fernseh- oder Kinofilm ergattern. Heute genießen Kameraleute, die frisch von der Filmakademie kommen, auch größeres Vertrauen seitens der Produzenten als zu meiner Zeit. Damals musste man beim Erstlingsfilm unbedingt einen erfahrenen Kameramann dabei haben, sonst hieß es: „Das wird nichts.“ Ich finde, gerade wenn junge Leute zusammenkommen, entstehen oft viel bessere Filme. Also: Es geht mir einerseits darum, in ihnen den künstlerischen Instinkt zu wecken, und andererseits darum, dass sie Erfahrungen in der freien Filmwirtschaft sammeln, damit ihnen der Übergang vom Studium zum eigenständigen Filmemachen leicht fällt.
Interview: Roman Scheider (in RAY Sonderheft „65 Jahre Filmakademie Wien“, Juni 2017)