Mit großer Freude dürfen wir Barbara Albert als neue Professorin an der Filmakademie Wien vorstellen. Mit diesem Studienjahr wird sie im Fachbereich Regie die Nachfolge von Michael Haneke antreten.
Eine Keynote zu Semesterbeginn von Barbara Albert
Noch einmal Willkommen an der Filmakademie, ich freue mich sehr, dass wir diesen ersten Tag im Semester gemeinsam begehen können!
Auch wenn einige von euch heute ihr Masterstudium beginnen und nicht mehr ganz am Anfang stehen, erlaubt mir heute als eine, die selbst etwas Neues beginnt, einige Worte zum Thema des ‚Anfangs‘ zu sagen.
Der Anfang von etwas hat immer etwas Aufregendes, manchmal vielleicht sogar etwas ein wenig Beängstigendes, Verunsicherndes. Auch wenn Hermann Hesse in dem Zusammenhang schon zu viel zitiert worden ist: natürlich liegt in jedem Anfang auch ein Zauber inne.
Denn das Unbekannte, das vor einem liegt, hat etwas Verheißungsvolles.
Die Sinne sind ganz wach und nehmen alles auf, nicht nur mit Auge und Ohr, sondern mit dem ganzen Körper. So wie wir gespannt, alle Poren geöffnet, im Kino sitzen, bevor der Film beginnt. Wie vor dem ersten Bild, das wir auf der Leinwand sehen. Dem ersten Ton, den wir hören. Auch auf dem weißen Blatt Papier, das vor uns liegt, hat das erste Wort eine besondere Bedeutung.
Wir sitzen im Kino, das Licht geht aus.
Schwarz. Dann: etwas Unscharfes. Wir wollen erkennen, was sich hinter diesem unscharfen, das Bild beinahe ganz verdeckenden Vordergrund verbirgt, doch es fällt uns schwer. Unscharfe Finger verdecken die Welt, die sie umgibt. Das Bild ist geheimnisvoll, versteckt etwas, zeigt uns etwas noch nicht. Und das höchst subjektiv – ganz aus der Perspektive der Figur, die sich die Hände vor die Augen hält, und doch den Blick auf die Welt sucht.
Schwarz. Das Close Up einer jungen Frau. Sie läuft auf uns zu, das Haar streng zurückgebunden, in einem glitzernden Turnanzug. Sie schwitzt. Wir spüren: sie ist aufgewühlt. Ihr Blick hat etwas wild Entschlossenes. Die Handkamera sieht ganz zentral nur sie, sie klebt an ihr, lässt sie nicht los. Die Frau stürmt auf uns, auf die Welt zu.
Schwarz. Eine weite Totale. Ein Feld, ein vereinzelt dastehender Baum. Ein Mann kommt ins Bild, läuft von links nach rechts, eine ganz kleine Figur, kaum auszumachen in der weiten Totalen. Der Weg ist lang, über den weiten Horizont hinweg scheint der Mann kaum voranzukommen, doch läuft er schnell in diesem statischen Bild. Wir schauen von der Ferne zu, so lange, bis wir näherkommen wollen, wissen wollen, was der Mann erlebt hat, vor wem er davonläuft, wohin er möchte.
Drei sehr unterschiedliche Filmanfänge: die Anfänge von ‚The Piano‘ von Jane Campion, von dem Kurzfilm ‚Magnesium‘ von Sam de Jong und von ‚L’Humanité‘ von Bruno Dumont.
Drei Blicke auf die Welt und die Figuren darin.
Drei Bilder, die für mich 3 Elemente des Filmemachens verkörpern:
Genaue Beobachtung und Perspektive, Nähe und Dynamik, Geheimnisvolle Distanz.
Und über allen drei Bildern liegt die Frage: wohin wird mich dieses Bild führen?
Schon das erste Bild eines Films gibt die Richtung an.
Und es lässt etwas über die Erzählerin/den Erzähler erkennen. (Als Erzähler:innen begreife ich uns alle, egal, ob wir stärker am Entstehungsprozess, der konkreten Umsetzung oder der Fertigstellung eines Films beteiligt sind.)
Wie erzählen wir, welchen Weg schlagen wir schon mit dem ersten Bild eines Films ein?
Wie gehen wir auf die Welt zu?
Wie verhalten wir uns in unserem Leben? Wie unsere Figuren? Betrachten wir gern die Dinge aus der Ferne, in Ruhe? Oder sind wir lieber mitten drin? Zieht uns das Geheimnis, das Unbekannte an, freuen wir uns an dem Ungewissen, vielleicht auch Unheimlichen, das sich hinter dem Geheimnis verbirgt – oder wollen wir aufdecken, analysieren, die Dinge mit scharfem Blick betrachten und untersuchen?
Ihr habt jetzt Zeit, das herauszufinden. Euren Blick auf die Welt zu finden. Ihr habt dafür ein paar Jahre – wahrscheinlich durchaus dichte Jahre – Zeit, könnt suchen, euch ausprobieren, vielleicht auch in Sackgassen landen, vielleicht auch über Umwege zu etwas kommen, mit dem Ihr euch identifizieren könnt, eure Sprache gefunden haben werdet.
Ihr habt aber bereits mindestens einmal euer erstes Bild gefunden, denn Ihr habt euch mit einem oder mehreren Filmen hier beworben.
Was war euer Beweggrund, euch mithilfe von Bildern und Tönen auszudrücken, euch überhaupt auszudrücken – was treibt euch an?
Als ich mit dem Studium begonnen habe, war ich neben meiner Faszination für das Bild und den Menschen davon getrieben, mit meinen Filmen die Welt verändern, ja, vielleicht sogar verbessern zu wollen.
Ich habe diesen Glauben an die Wichtigkeit der eigenen Arbeit später manchmal belächelt – aber warum eigentlich?
Wisst Ihr, warum Ihr Filme machen wollt? Kennt Ihr eure Motivation?
Wenn Ihr sie kennt, schreibt sie auf, steckt sie in ein Kuvert und öffnet das Kuvert lange, vielleicht sogar ein paar Jahre lang, nicht.
Ich wünsche es euch nicht, aber aus eigener Erfahrung sprechend, kann ich nicht ausschließen, dass Ihr im Lauf eures Lebens, eurer filmischen Arbeiten, einmal in eine Krise kommt. Bitte öffnet dann, in dieser Krise, das Kuvert und erinnert euch – und besinnt euch darauf, warum Ihr diesen Weg eingeschlagen habt.
Nun schlagt Ihr diesen Weg zu einem Zeitpunkt ein, der herausfordernder und spannender nicht sein könnte. Die großen Fragen unserer Zeit – sei es die Zeit nach der Postmoderne oder die des ‚Endes der Geschichte‘, die postpandemische oder eine, die wir erst rückblickend benennen werden können – diese Fragen sind nicht einfach, wenn überhaupt, zu beantworten: Wie gehen wir in Europa, wie weltweit mit den Auswirkungen des Klimawandels, wie mit den Auswirkungen von Krieg und Flucht vor? Wie gehen wir mit dem Wissen um, dass die globale Erwärmung des Planeten nicht aufzuhalten ist? Welche Menschen nimmt Europa auf – und wir an? Wen grenzen wir aus?
Gibt es Antworten auf diese Fragen, wollen wir diese erforschen? Oder beschäftigen wir uns lieber mit anderen Realitäten, unmittelbaren, alltäglich Beobachtungen in unserem Umfeld – oder lieber mit parabelhaften Szenarien? Versuchen wir, Geschichten zu erzählen, die übertragbar sind und sich jenseits der allgemein für gültig befundenen Realität mit der Faszination Mensch beschäftigen?
Auch was unser Medium Film betrifft stehen wir am Anfang einer großen Veränderung – vielleicht bereits mitten drin in einem Umbruch. Welche Auswirkungen wird die Künstliche Intelligenz auf unsere Arbeit haben? Wie können wir sie für uns nutzen (denn wegzudenken ist sie nicht mehr); wie können wir uns vor Missbrauch schützen?
Vieles erscheint uns ungewiss. Und vor dem Ungewissen haben wir Angst. Auch für mich hat sich das Leben in den letzten Jahren oft so angefühlt, als würde ich auf einem 5-Meter-Turm (der 10-Meter-Turm übersteigt meine Vorstellungen) stehen, kurz vor dem Sprung. Aber wir wissen, und das bringt mich zurück zum Anfang: all unsere ersten Male – der erste Sprung vom 5-Meter-Brett, der erste Tag im Kindergarten, der erste Schultag, das erste Mal allein unterwegs auf Reisen, das erste Mal eine Filmidee vorstellen, das erste Mal eine Szene proben, den Dialog das erste Mal durch den Mund der Schauspielenden hören, das erste Mal durch die Kamera schauen, die erste Klappe schlagen, das erste Mal Muster sichten, das erste Screening vor Publikum, das erste Mal auf einer Bühne stehen – all diese ersten Male möchten wir nicht missen. Es ist die Mischung aus Aufregung, Angst, Euphorie und die Notwendigkeit, etwas zu erzählen, die es uns jedes Mal wieder tun lässt – und die in Stadien des Neubeginns unsere Sinne so schärft, wir ganz wach werden.
Vielleicht müssen wir besonders wach sein in den kommenden Jahren, vielleicht auch öfter als bisher Haltung zeigen.
Das Gute ist: wir können die Welt mitgestalten. Ihr werdet sie mitgestalten. Mit euren Bildern, euren Tönen, euren Worten, euren Gedanken, eurem Körper.
Und so möchte ich mit einem Zitat schließen, das mich inspiriert hat, und das Zadie Smith in ihrem Essayband FREIHEITEN in dem Text ‚Tanzstunden für Schreibende‘ aufgreift (und ich erweitere hier den Begriff ‚Schreibende‘ zu ‚Filmemachende‘).
Zadie Smith sagt: Tanz ist wie Schreiben – schwebend oder auf der Erde.
Und: „Mit der fundierteste Schreibratschlag, den ich kenne, richtet sich ursprünglich an Tänzerinnen und Tänzer – er stammt von der Choreographin Martha Graham. Trotzdem entspannt er mich vor meinem Laptop genauso sehr, wie er in meiner Vorstellung junge Tänzerinnen und Tänzer dazu anhält, tiefer zu atmen und Finger und Zehen zu lockern.
Graham schreibt: Es gibt eine Vitalität, eine Lebenskraft, eine Energie, eine Regung, die durch dich in Handlung umgesetzt wird. Und da es dich über alle Zeit hinweg nur einmal gibt, ist dieser Ausdruck einzigartig. Blockierst du ihn, wird er niemals durch ein anderes Medium hervorgebracht werden und verloren gehen. Die Welt wird ihn nicht erleben. Es ist nicht deine Aufgabe zu entscheiden, wie gut oder wie wertvoll er ist, ob er im Vergleich mit anderen Ausdrucksformen bestehen kann. Deine Aufgabe ist nur, ihn klar und direkt als deinen zu erhalten, den Kanal offen zu halten.“
Ich wünsche euch einen schönen Anfang an der Filmakademie Wien!
Über Barbara Albert
1970 in Wien geboren, studierte Barbara Albert an der Filmakademie Wien bei Lukas Stepanik und Peter Patzak Regie und bei Walter Wippersberg Drehbuch. Nach ihren international erfolgreichen Kurzfilmen feierte ihr erster Langspielfilm Nordrand 1999 im Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig seine preisgekrönte Uraufführung.
Im selben Jahr gründete Barbara Albert gemeinsam mit Martin Gschlacht, Jessica Hausner und Antonin Svoboda die Produktionsfirma coop99. Als Produzentin war sie mit verantwortlich für Filme wie Die fetten Jahre sind vorbei,Darwin’s Nightmare, Lovely Rita, Lourdes, Women without Men, Die Wand, Amour Fou, Toni Erdman und Quo Vadis, Aida? – nominiert für ‚Best International Picture‘ bei den Oscars 2021.
Als Autorin arbeitete Barbara Albert mit Jasmila Zbanic, Andrea Staka, Ruth Mader und Michael Glawogger zusammen. Nach Böse Zellen (2003), Fallen (2006), Die Lebenden (2012) und Licht (2017), Wettbewerbsbeiträge in Venedig, Locarno und San Sebastian, hat sie nun ihren sechsten Kinospielfilm Die Mittagsfrau – nach dem gleichnamigen historischen Roman von Julia Franck – fertiggestellt. Barbara Albert ist Gründungsmitglied der Akademie des Österreichischen Films und Preisträgerin des Österreichischen Kunstpreises. Von 2013 bis 2023 war sie Professorin für Spielfilmregie an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF, ab 1. Oktober 2023 kehrt sie als Regie-Professorin an die Filmakademie Wien zurück.