Filmisches Erzählen im Dokumentarfilm bei Absenz der Hauptfigur
Mit seinen klugen und eigensinnigen Filmen ist der Autor und Regisseur Gerd Kroske eine zentrale Stimme des deutschen Dokumentarfilms der Gegenwart. In konsequenter künstlerischer Unabhängigkeit hat Kroske in den letzten 30 Jahren ein Werk realisiert, das sich in beziehungsreicher Weise sowohl mit dem Erbe der DDR als auch dem der BRD auseinandersetzt. Kroskes Oeuvre kann wie eine Chronik der jüngeren ost- und westdeutschen Geschichte gelesen werden, die beharrlich von den Geschichten der Marginalisierten ausgeht und diese als symptomatisch für größere Zusammenhänge versteht.
Kroske, 1958 in Dessau geboren, lernt sein filmisches Handwerk noch in der DDR: er studiert an der Humboldt Universität zu Berlin und der HFF in Potsdam-Babelsberg und arbeitet von 1987 bis 1991 als Dramaturg im DEFA-Dokumentarfilmstudio (u.a. gemeinsam mit Jürgen Böttcher und Volker Koepp). Kroskes erste Filme entstehen in den Wendejahren 1989/90: sowohl der Kollektivfilm Leipzig im Herbst (1989) als auch sein Kurzfilm Kehraus (1990) zählen bis heute zu den besten Zeugnissen aus der Zeit der untergehenden DDR. In der Folge entwickelt Kroske aus Kehraus eine exemplarische Langzeitbeobachtung: mit Kehrein, Kehraus (1997) und Kehraus, wieder (2006) begleitet er seine einstigen Leipziger Straßenkehrer über einen Zeitraum von mehr als 15 Jahren und zeigt präzise, wie sich der Alltag für jene gestaltet, die nach der „Wiedervereinigung“ keinen sinnvollen Platz mehr in der Gesellschaft finden.
„Am liebsten lasse ich einen Film aus dem anderen entstehen“, sagt Kroske, und definiert eine Arbeitsweise, die sich ganz am Offenen des Dokumentarischen orientiert. „realistfilm“ nennt Kroske seine eigene Produktionsfirma (was programmatisch zu verstehen ist), die er Mitte der 1990er Jahre gründet, um sich sein eigenständiges Arbeiten zu bewahren. Neben seiner Kehraus-Trilogie ist von dieser kreativen Autonomie ganz besonders auch seine Hamburg-Trilogie geprägt, die den Konflikten in der Nachkriegs-BRD und der verdrängten Nazi-Vergangenheit nachspürt: Der Boxprinz (2000) porträtiert den legendären Boxer, Kleinkriminellen und Selbstdarsteller Norbert Grupe; daraus entsteht Wollis Paradies (2007), ein rauer filmischer Hausbesuch beim einstigen Bordellier, Dichter und Maler Wolli Köhler; und führt zu Heino Jäger – Look before you kuck (2012), Kroskes wunderbarer Wiederentdeckung des völlig zu Unrecht vergessenen Universal-Künstlers Heino Jäger, der in der BRD als Satiriker und Radio-Star Kultstatus besaß.
Mit großer Sympathie porträtiert Kroske die Außenseiter und Ausgestoßenen und versteht es meisterhaft mit ihnen das Vergangene zu vergegenwärtigen: in Striche ziehen (2014) führt Kroske mittels der widerständigen Weimarer Punkszene der 1980er Jahre nochmals die repressiven Strukturen der späten DDR und deren Folgen vor Augen; und in seinem herausragenden aktuellen Kinofilm SPK Komplex (2018) erzählt er nicht nur die kaum bekannte Geschichte des 1970 gegründeten antipsychiatrischen Heidelberger „Sozialistischen Patientenkollektivs“, sondern veranschaulicht in atemberaubender Weise die politischen Widersprüche der westdeutschen Gesellschaft von den 1968er Jahren bis in die Gegenwart. (Constantin Wulff)