Demokratie und Drama | eine Frage der Entscheidung

Eine Keynote zum Semesterbeginn von Christine Lang, die ab Oktober 2024 als neue Professorin für Medien- und Filmwissenschaft an der Filmakademie Wien lehrt. Mit diesem Studienjahr tritt sie die Nachfolge von Claudia Walkensteiner-Preschl an.

Liebe Erstsemester, liebe Masterstudierende, liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist mir eine große Freude, heute hier zu stehen und euch alle zu begrüßen – zugleich möchte ich mich vorstellen. Denn wie bereits erwähnt, teilen wir, die Erstsemester und ich, diesen Tag als unseren ersten Tag an der Filmakademie. Ich wurde gebeten, zum großen Auftakt heute eine kleine Keynote zu halten. Dabei möchte ich auch ein wenig für unser Fach Film- und Medienwissenschaften und die Bedeutung des theoretischen Denkens in der kreativen Praxis werben. Als Thema habe ich etwas gewählt, das mir aus mehreren Perspektiven sehr aktuell erscheint, und das auch etwas mit uns zu tun hat.

Es ist fast trivial zu sagen, dass die Demokratie in der Krise ist – sie ist es im Grunde genommen immer, sie ist von Natur aus ein fragiles Projekt. Doch gegenwärtig ist dieses Thema besonders relevant, wir sehen den Aufstieg des Rechtspopulismus in ganz Europa – und die damit einhergehenden Bedrohungen der demokratischen Rechtsstaatlichkeit können durchaus Besorgnis erregen. Eine Demokratie, die ohne Gewaltverhältnisse auskommen will, muss Vielfalt, Pluralität und Solidarität fördern. Das sei vorangestellt – denn ich möchte den Zusammenhang von Demokratie und Film etwas tiefer beleuchten:

Der narrative Spielfilm ist eine auf Figurenhandlung basierende Kunstform und beruht auf den dramaturgischen Bedingungen der Dramatik. In der Darstellung von Figuren spielen dabei zwei Aspekte eine zentrale Rolle: das Erkennen und das Entscheiden. Diese Elemente bilden das Herzstück der Figurenentwicklung, denn eine Figur erkennt – meistens nach der Hälfte bis zwei Dritteln der Filmlaufzeit – etwas Wesentliches, das sie dazu veranlasst, ihre Handlung neu auszurichten. Diese Handlungsumkehr führt dann zu jenen Konsequenzen, die am Ende des Films stehen.

Ich möchte dies anhand von zwei konkreten Beispielen veranschaulichen:

In dem Filmklassiker The Day of the Jackal (1973), eine Adaption unter der Regie von Fred Zinnemann, wird von einem Auftragsmörder erzählt, der entsendet wurde, den französischen Präsidenten de Gaulle zu ermorden. Die Filmwissenschaftlerin Kerstin Stutterheim hat in ihrer Analyse des Films auf den zentralen Moment von Erkenntnis und Entscheidung hingewiesen: Wie sehen hier den Auftragsmörder zunächst am Telefon, wie er erfährt, dass seine wahre Identität aufgedeckt wurde. Nun muss er sich entschieden, ob er seinen Auftrag weiter ausführt oder nicht. Im zweiten Bild sehen wir den Moment seiner Entscheidung: bricht er den Auftrag ab und fährt ins sichere Italien, oder fährt er weiter nach Paris? Natürlich fährt er nach links – denn sonst wäre der Film vorbei.

In dem Film Aftersun (2022) von Charlotte Wells erleben wir diesen entscheidenden Moment im Leben der jungen Protagonistin Sophie. Sie hatte erwartet, gemeinsam mit ihrem Vater auf die Bühne zu gehen, um Karaoke zu singen. Doch sie muss erkennen, dass ihr Vater mit verschränkten Armen sitzen geblieben ist und sie nun alleine auf der Bühne steht. Der Text „I thought that I heard you sing“ versinnbildlicht ihr inneres Empfinden und ihre Enttäuschung. Daraufhin trifft sie eine Entscheidung und teilt ihm mit, dass sie nicht gemeinsam mit ihm zurück in die Unterkunft gehen wird – sie wird den Abend mit anderen Jugendlichen verbringen.

Diese Momente – die schon von Aristoteles in der Poetik als Anagnorisis und Peripetie beschrieben wurden – sind integraler Bestandteil der Dramatik und stehen in engen Zusammenhang mit der Demokratie. Anders gesagt: die Demokratie hat, über den Umweg der antiken Tragödie, das Drama erschaffen. Dazu muss man wissen, dass jede Gesellschaftsform ihre eigene dramaturgische Form hervorgebracht hat: Einige Gesellschaften produzieren vor allem Märchen, andere Musicals, wieder andere bringen endlos viele Krimis hervor. In Hollywood wiederum dominieren Heldenreisen – in deren Struktur im Übrigen eine recht hierarchische Weltordnung zum Tragen kommt.

Dass die Tragödie zeitgleich mit der Demokratie entstanden ist, ist kein Zufall. Wie u.a. der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach herausgearbeitet hat, entstand sie im Kontext der athenischen Demokratie und deren neuen Anforderungen an die Bürger als Entscheidende und Handelnde (damals galt dies nur für Männer, nicht für Frauen und versklavte Menschen). Diese Bürger begannen sich erstmals als autonom Handelnde zu erfahren, und die Kunst begleitete diese neue Erfahrung durch eine kritische Auseinandersetzung und mit der Frage, ob und inwiefern der Mensch eigentlich tatsächlich über sein Handeln bestimmen kann.

Diese Dialektik zwischen individueller Handlungsmacht und der Eingebundenheit in überindividuelle Kräfte, sei es durch schicksalhafte Mächte oder gesellschaftliche Verpflichtungen, bildet das Zentrum zahlreicher Stoffe der Dramatik. In diesem Konflikt zwischen individueller Freiheit und kollektiver Gleichheit, den Rechten des Einzelnen und den Bedürfnissen der Gemeinschaft, spiegelt sich zudem das grundlegende Paradox der Demokratie. Dieser Konflikt – wie u.a. ausführlich von der Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe beschrieben – muss in einer Demokratie beständig neu ausgehandelt und entschieden werden.

Dabei ist die Demokratie, wie auch die Dramatik, auf ästhetische Repräsentation angewiesen. Das drückt sich bereits in der Architektur aus: Die Ähnlichkeit zwischen beispielsweise dem historischen österreichische Parlament des 19. Jahrhunderts und dem als ältestes Theater der Welt geltenden Theater des Dionysos in Athen ist unübersehbar. Sowohl im Parlament als auch auf der Bühne treten Menschen nach vorne, führen etwas aus oder vor. Und in beidem sind Menschen darauf angewiesen, andere von etwas zu überzeugen.

Die Demokratie ist wegen ihrer Abhängigkeit von Repräsentation und überzeugender Darstellung vielfach kritisiert worden. Schließlich haben dadurch gut performende Demagogen gute Chancen gewählt zu werden. Die Philosophin Juliane Rebentisch argumentiert aber, dass die Demokratie gerade aufgrund ihrer Angewiesenheit auf ästhetische Repräsentation eine der besten aller möglichen Staatsformen sei. Denn ihre Eigenart ermögliche jeder Person, nach vorne zu treten, die Bühne zu betreten und sich öffentlich zu äußern. Und auch die Entscheidung, Filme zu machen, bedeutet ein aktives Eintreten auf diese öffentliche Bühne. Diese Möglichkeit, sich am öffentlichen Diskurs mit den vielfältigsten Inhalten und Formen zu beteiligen, ist in anderen Staatsformen schließlich so nicht unbedingt gewährleistet.

Ich komme nun zum recht naheliegenden Schluss:

Mit eurer Entscheidung, Filme zu machen, habt ihr euch auch dafür entschieden, euch aktiv in die Öffentlichkeit einzubringen. Filmemachen ist immer auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs, unabhängig davon, ob euer Interesse im Bereich der Unterhaltung oder auf Gesellschaftskritik liegt. Genaugenommen gibt es keine Filme, die nicht politisch sind ­(dazu haben sich auch viele Filmemacher*innen geäußert, sei es Jean-Luc Godard, Wim Wenders oder Chantal Akerman. In Interviews hat sie immer wieder betont, dass jede Entscheidung, die sie als Filmemacherin treffe, eine politische ist, allein durch die Art und Weise wie sie die Kamera hält.)

Ihr betretet also in jedem Fall eine Bühne der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Und um Filmemacher*in zu werden – um nach vorne treten zu können, um sich in Diskurse einzubringen – muss man irgendwann Entscheidungen treffen. Das ist unabhängig davon, ob man aus der Perspektive des Drehbuchschreibens, der Produktion, der Regie, der Kamera, der Montage oder der anderen Gewerke handelt. Und um sich entscheiden zu können, braucht es einige Erkenntnisse – und dafür seid ihr ja auch hier an der Filmakademie.

Ihr seid hier, um das filmische Handwerk zu erlernen, Dramaturgie und Filmästhetik zu verstehen, aber auch, um euch als Künstler*innen und Gestalter*innen besser kennenzulernen. Man ist schließlich immer enthalten, in dem was man erzählt. Nutzt also das Studium und den Freiraum an der Filmakademie, um euch selbst und einander kennenzulernen. Schmiedet Allianzen – nirgendwo kann man so gut Allianzen schmieden wie im Filmstudium. Und am besten werdet ihr eine neue Generation, die etwas zu sagen hat. Probiert euch aus in Inhalten und Formen. Findet eure Themen und eure spezielle Perspektive. Professionalisiert euch, aber übernehmt nicht nur vorhandene Standards. Probiert neue Techniken und experimentiert mit Erzählformen. Wo soll denn Neues entstehen, wenn nicht hier?

Die plurale Demokratie braucht viele Perspektiven und unterschiedliche Stimmen, und im Übrigen auch komplexe Erzählungen. Und behaltet bei all dem im Hinterkopf, welche Macht das Medium Film hat, gesellschaftliche Wahrnehmungen zu beeinflussen und gegebenenfalls sogar zu verändern.

Die Demokratie braucht euch, und wir freuen uns riesig auf eure Filme!

Bildnachweise

The Day of the Jackal (1973), Universal Studios
Aftersun (2022), MUBI
Theatre of Dionysos – Flickr, Láscar, CC BY-SA 2.0
Historischer Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses – Wikimedia Commons, Pommfritz, CC BY 3.0

Über Dr.phil. Christine Lang

Christine Lang arbeitet als Filmwissenschaftlerin, Autorin, Dramaturgin und Filmemacherin. Ihre Publikationen begreift sie als Beitrag zu einer Filmwissenschaft, in der das Wissen aus der künstlerischen Praxis Bestandteil der Theoriebildung ist.

Sie studierte Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft an der Universität Bremen und der Humboldt-Universität zu Berlin, und Filmregie an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Von 2009 bis 2015 war sie künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf und promovierte dort später im Fach Medienwissenschaft. Ab 2016 unterrichtete sie an zahlreichen Film- und Kunsthochschulen (Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy, UDK und DFFB, Akademie der bildenden Künste Wien u.a.). 2024 ist sie Gastprofessorin für künstlerische Forschung an der Filmuniversität Babelsberg. 2014 bis 2021 arbeitete sie als Autorin und Dramaturgin am Theater (mit Regisseur Volker Lösch), von 2021 bis 2024 als freie Dramaturgin für Filme im Kunstkontext und für TV-Serienproduktionen. Seit 2021 ist sie Dozentin für Film- und Seriendramaturgie beim ZDF.

2023 erschien ihr Buch »David Lynchs Mulholland Drive verstehen. Visuelles Erzählen und die Dramaturgie der offenen Form«. 2013 veröffentlichte sie gemeinsam mit Christoph Dreher »Breaking Down Breaking Bad. Dramaturgie und Ästhetik einer Fernsehserie«. Ihre Filme laufen auf internationalen Festivals und erhalten Auszeichnungen. Der mit Constanze Ruhm realisierte Spielfilm Kalte Probe feierte 2013 Premiere auf der Berlinale, ihr Kurzfilm As if we were somebody else 2015 auf den Internationalen Hofer Filmtagen.

www.christinelang.eu